Was versteht man unter persönlicher Assistenz für Menschen mit Behinderung?

Eine ganze Reihe von Menschen reagieren erfahrungsgemäß leider folgendermaßen auf diese Frage: “Ja, da geht es doch um Betreuung, oder”? Diese Antwort erscheint paradox, wenn man bedenkt, dass der Begriff Assistent auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen vorkommt, ohne dort jemals mit Betreuung in Verbindung gebracht zu werden. Wer käme schon auf die Idee von einem medizinisch-technischen Betreuer zu sprechen, wenn es um einen medizinisch-technischen Assistenten eines Wissenschaftlers oder Mediziners geht. Wahrscheinlich niemand. Doch dass behinderte Menschen Betreuung brauchen, ist tief in den Gedanken vieler Menschen verwurzelt, wie dieser Vergleich zeigt.

Das Wort Betreuung impliziert, dass eine Person nicht in der Lage ist, allein ein Leben zu führen, ohne dazu einen “Aufpasser” zu benötigen, der oder die vorgibt, welche Lebensvorstellungen nun die Richtigen sind.

Auch hier sticht eine sprachliche Parallele ins Auge:

Der Begriff Betreuung fällt häufig im Zusammenhang mit Behinderten und Kindern. Während Kinderbetreuung ein halbwegs angemessener Begriff ist, da zumindest jüngere Kinder Anleitung und Hilfe brauchen, um eigene Lebensvorstellungen und komplexe Entscheidungen zu treffen, trifft dies bei körperlich behinderten Menschen überhaupt nicht zu. Es ist ein großer Unterschied, eine Handlung rein körperlich nicht durchführen zu können, oder nicht zu wissen und entscheiden zu können, ob eine Handlung sinnvoll ist und welche Folgen sie hat. Und hier kommt der Begriff der Assistenz ins Spiel. Assistenz bei einem behinderten Menschen zu leisten bedeutet, nach dessen Anleitung vorhandene körperliche Einschränkungen unterstützend auszugleichen. Die Person, die Assistenz braucht, weiß selbst am besten, wie die Unterstützung aussehen soll, die sie sich wünscht. Behinderte Menschen haben, als Experten und Expertinnen in eigener Sache, die entsprechenden Kompetenzen. Im Einzelnen sind dies die folgenden:

  • Personalkompetenz: Behinderte Menschen entscheiden, wer die Assistenzleistungen erbringt. Sie schließen Arbeitsverträge mit ihren selbst ausgewählten Assistentinnen, erstellen Dienstpläne, Lohnabrechnungen, führen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ab.
  • Anleitungskompetenz: Behinderte Menschen lernen die Assistent/innen selbst für die benötigten Hilfeleistungen ein. Sie wissen am besten, welche Assistenzleistungen sie in welchem Umfang benötigen.
  • Finanzkompetenz: Behinderte Menschen kontrollieren die Verwendung der ihnen zustehenden Finanzmittel zur Bezahlung der Assistent/innen wie Leistungen aus der Pflegeversicherung (SGB XI) und/oder dem (SGB XII) selbst.
  • Organisationskompetenz: Behinderte Menschen gestalten ihren Tagesablauf in Eigenregie (ohne zeitliche Vorgaben durch ambulante Dienste etc.).
  • Raumkompetenz: Behinderte Menschen bestimmen selbst, an welchem Ort die Assistenz erbracht wird (z. B. in der eigenen Wohnung, am Urlaubsort, bei Besuchen von Freunden und Familienangehörigen)

Wer den bisherigen Text aufmerksam durchgelesen hat, kann erkennen wie sich hinter dem Wort “Behindertenassistenz” ein ganz anderes Selbstverständnis verbirgt, als bei dem Wort “Behindertenbetreuung”.

Behindertenassistenz

  • Behinderte Menschen wissen selbst am besten, was sie wollen!
  • Jeder behinderte Mensch ist eine individuelle Persönlichkeit mit ganz eigenen Vorlieben!
  • Behinderte Menschen haben eigene Pläne zu ihrer Lebensgestaltung!

Behindertenbetreuung

  • Nicht behinderte Menschen wissen am besten,
    was gut für Behinderten ist!
  • Behinderte haben durchweg ähnliche Bedürfnisse!
  • Behinderte brauchen Anregungen von außen!


Diese Übersicht lässt sich sicher noch erweitern. Insgesamt besteht der Hauptunterschied zwischen beiden Haltungen darin, dass bei Assistenz im Gegensatz zur Betreuung keine erzieherische Funktion angestrebt wird. Nur bei einer gezielten Unterstützung im Alltag, bei der die Hilfe so erbracht wird, wie sie gewünscht wird, kann man von Assistenz und Selbstbestimmung sprechen.